Die große Klammer um agile Innovationsmethoden

The Lean Startup, Design Thinking, Agile Development, Business Model Canvas, Value Proposition Design, Minimum Viable Product, Experiment Board, Customer Funnel, Rapid Prototyping … was ist das nochmal und wie hängt das eigentlich alles zusammen?

Als ich 2009 mein erstes Unternehmen gründete, waren das Betriebssystem Android und das iPhone 3 gerade erst auf den Markt gekommen. Seitdem ist die Smartphone-Nutzung um unglaubliche 700% gestiegen und hat unseren Alltag unumkehrbar verändert. Immer mehr Innovationen unseres noch jungen Informationstechnologiezeitalters faszinieren uns und in diesem rasanten Entwicklungstempo folgen Ansätze zum Mitmachen.

Das Buch „Business Model Generation: Ein Handbuch für Visionäre, Spielveränderer und Herausforderer“ von Alexander Osterwalder und Yves Pigneur erschien 2010. Das mittlerweile in der globalen Startup-Szene gelebte Werk „The Lean Startup“ wurde 2011 von Eric Ries veröffentlicht. Das ist alles noch nicht lange her und bedarf einer Aufarbeitung.

Visionäre, Spielveränderer, Herausforderer – damit sind wohl wir Gründer und die Venture Capitalist-Szene gemeint. Während wir vor 10 Jahren keinesfalls auch nur unseren besten Freunden unsere Geschäftsidee verrieten, im Stillen ausführliche Businesspläne für unsere Investoren schrieben und endlich nach langen Entwicklungsphasen mit Pauken und Trompeten in den Markt eintraten, um dann den allerersten Kontakt mit dem Kunden zu haben, hat sich in den vergangenen fünf Jahren viel verändert.

Investoren verlangen nicht mehr nach der Fünf-Jahres-Planung eines Startups. Sie wollen vielmehr wissen, ob wir „groß genug“ denken und fragen nach den wichtigsten Key Performance Indicators (KPIs) und Conversion-Rates unseres Customer Funnels. Das sind Kennzahlen, die in der sehr frühen Unternehmensphase unter hoher Unsicherheit anzeigen, ob es in die richtige Richtung geht oder ob Anpassungsbedarf für das junge Unternehmen herrscht.

Mitunter zeigen die Kennzahlen auch an, dass wir lieber das „Fail fast“-Programm einläuten sollten und das Vorhaben lieber früher als später an den Nagel hängen, ehe wir Millionen verbrannt haben.

Um die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns zu verringern, gehen wir heute sehr viel schlanker und flexibler an unsere Gründungsvorhaben heran. Die Methoden, derer wir uns hierbei bedienen entsprechen dem agilen Vorgehensprinzip. Der Begriff der Agilität stammt eigentlich aus der Softwareentwicklung – einer Arbeit, die seit jeher unter Unsicherheit stattfindet, da viele technische Anforderungen und Herausforderungen erst während der Implementierungsphase offensichtlich werden.

Im Vornherein ausformulierte Pflichtenhefte zeigen immer wieder enorme Planungsschwächen, weshalb agile Methoden auf Werte und Prinzipien aufsetzen, die diese Schwächen weitestgehend auflösen.

Agile Entwicklungsmethoden zielen nicht nur auf die einzelnen Anforderungen und Funktionalitäten, sondern berücksichtigen im besonderen Maße die dahinterliegenden Geschäftsziele. Über Iterationen auf Basis frühzeitig einsatzfähiger Produkte, können so Anforderungen jederzeit angepasst und der Aufwand reduziert werden.

 

Agiles Manifest

2001 wurde in Utah das „Agile Manifesto“ formuliert. Die agile Vorgehensweise beruht danach im Wesentlichen auf folgenden vier Grundpfeilern:

  1. Individuen und Interaktionen haben Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen.
  2. Funktionsfähige Produkte haben Vorrang vor ausgedehnter Dokumentation.
  3. Zusammenarbeit mit dem Kunden hat Vorrang vor Vertragsverhandlungen.
  4. Das Eingehen auf Änderungen hat Vorrang vor strikter Planverfolgung.

Diese Grundprinzipien gelten in etwas abgewandelter Form auch für die agilen Methoden, die bei der Umsetzung von innovativen Geschäftsideen in einem „Lean Startup“ verwendet werden.

„Get out of the Building, because inside there is no truth“ (Steve Blank): Der frühe Kontakt mit dem Kunden ist hierbei eines der zentralen Prinzipien, um frühzeitig etwas über die Geschäftsaussichten hs1_judith-gentz_build-measure-learn-300x290 zu lernen und Anpassungen am Geschäftsmodell vornehmen zu können.

Alle wesentlichen Handlungen eines Lean Startups finden als so genannte Experimente statt. Hierbei werden zuvor Annahmen getroffen (Hypothesen aufgestellt) und mit Hilfe von Interviews, Prototypen oder anderen Tests Feedback vom Kunden eingeholt und bewertet, um wichtige Veränderungen vorzunehmen oder ganze Geschäftsmodelle frühzeitig zu verwerfen.

Dieses Vorgehen nennt man validiertes Lernen.

Lean Startups gehen mit funktionsfähigen Produkten in den Markt, die jedoch nur einen minimalen Funktionsumfang haben und lediglich den Kernnutzen ihres Produkten umfassen.

Diesen Produktstatus nennt man Minimum Viable Product (MVP), welcher sehr ressourcenschonend hergestellt und auf seine Marktfähigkeit getestet wird, bevor eine Weiterentwicklung zur Erschließung eines größeren Marktes erfolgt.

 

Wie alles zusammenhängt

The Lean Startup – den Begriff und das Vorgehen prägte Eric Ries, ein Entrepreneur aus dem Silicon Valley. Diese systematische Herangehensweise an die Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen bildet die große Klammer um die agilen Innovationsmethoden und -instrumente.

Startups gelten hierbei als temporäre Organisationen, die unter hoher Unsicherheit nach wiederholbaren, skalierbaren Geschäftsmodellen suchen (Steve Blank). (Es können auch Strukturen innerhalb größerer Organisationen sein.) Lean Startups durchlaufen drei Phasen bis sie im Erfolgsfall zu einem überlebensfähigen Unternehmen heranwachsen und skalieren.

Für die verschiedenen Aufgaben, die in den unterschiedlichen Phasen zu bewältigen sind, eignen sich entsprechende Methoden, nicht einander nicht ausschließen, sondern sinnvoll ergänzen. Folgendes Schaubild ordnet die nachfolgend skizzierten agilen Methoden und Instrumente in den Entwicklungszeitablauf eines Startups ein:

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The Lean Startup

Aufgabe: Entwicklung und Vermarktung von Innovationen

Kurzbeschreibung: The Lean Startup ist eine systematische, agile Herangehensweise an die Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen.

Wichtige Vertreter: Eric Ries, Steve Blank, Ash Maurya

 

Design Thinking

Aufgabe: Entwicklung von Ideen und Problemlösungen

Kurzbeschreibung: Design Thinking ist ein interdisziplinärer Innovationsansatz, mit dem sich in einer kreativen Umgebung unter wesentlicher Berücksichtigung von

Anwender-Bedürfnissen Probleme lösen und neue Ideen entwickeln lassen.
Dabei wird auf Kreationsprozesse wie Verstehen, Beobachten, Finden, Verfeinern, Umsetzen und Lernen zurückgegriffen.

Wichtige Vertreter: Terry Winograd, Larry Leifer, David Kelley, Hasso Plattner

Lean Canvas

Aufgabe: Erste Erfassung und Überprüfung des Geschäftsmodells

Kurzbeschreibung: Das Lean Canvas ist eine Anpassung des Business Model Canvas für die allererste Erfassung der Geschäftsidee in Form eines Geschäftsmodells. Im Gegensatz zum Business Model Canvas berücksichtigt das Lean Canvas die Bedürfnisse der Zielgruppe, die Produktlösung sowie wichtige Unternehmenskennzahlen. Es eignet sich vor allem in der Problem Solution Fit-Phase des Startups.

Wichtige Vertreter: Ash Maurya

 

Value Proposition Design / Value Proposition Canvas

Aufgabe: Erarbeitung des Produktnutzens und Produktentwicklung

Kurzbeschreibung: Das Value Proposition Design ist eine Methode zur Ableitung konkreter Kundenbedürfnisse und Entwicklung eines nachhaltigen Kundennutzens von Produkten.
Das Value Proposition Canvas ist eine produktbezogene Ergänzung des Business Model Canvas, das die kundenzentrierten Wettbewerbsvorteile von
Produkte und Services beschreibt.

Wichtige Vertreter: Alexander Osterwalder, Yves Pigneur, Greg Bernarda, Alan Smith

Experiment Board

Aufgabe: Überprüfung und Validierung von Produktideen

Kurzbeschreibung: Das Experiment Board ist ein Instrument, das der Strukturierung und Verfolgung des Lean Startup-Prozesses dient. Es hilft bei der schrittweisen Durchführung von Experimenten zur Untersuchung von Kundenbedürfnissen und zur Überprüfung der Annahmen über das Produktangebot.

Wichtige Vertreter: Trevor Owens, Nancy Ng

 

Business Model Canvas

Aufgabe: Entwicklung und Test des Geschäftsmodells

Kurzbeschreibung: Das Business Model Canvas ist ein Werkzeug für die

Entwicklung und Erfassung der wichtigsten neun Bestandteile des Geschäftsmodells.
Es zeigt in nur einem Bild die Abhängigkeiten und das Zusammenwirken zwischen den wesentlichen Geschäftsmodellaspekten und erlaubt eine fortwährende Überprüfung sowie Anpassung dieser Bestandteile. Es unterstützt durch seine Einfachheit eine
kreative Herangehensweise zur Entwicklung innovativer Geschäftsmodelle.

Wichtige Vertreter: Alexander Osterwalder, Yves Pigneur

 

Agile Development

Aufgabe: Produktentwicklung

Kurzbeschreibung: Agile Development ist der Oberbegriff für die Anpassungsfähigkeit (Agilität) in der Produktentwicklung. Zumeist wird er im Bereich der Softwareentwicklung verwendet und basiert auf einem schrittweisen, aufwandsreduziertem, iterativen Vorgehen bei der Umsetzung von Projekten. Agile Development basiert auf Werten und Prinzipien des Agile Manifesto und verfolgt u.a. das KISS-Prinzip (Keep it simple and stupid).

Wichtige Vertreter: Kent Beck, Alistair Cockburn, Howard G. Cunningham u.v.m.

 

Kanban

Aufgabe: Getting things done, Prozesssteuerung

Kurzbeschreibung: Kanban (jap.: Signalkarte) beschreibt ein Vorgehen, bei dem durch den Abbau paralleler Arbeiten der Arbeitsfluss erhöht wird.
Durch die einfache Visualisierung von „ToDo“, „Doing“, „Done“ der gerade in Arbeit befindlichen Einzelaufgaben (Work in Progress, WiP) können
Arbeitsabläufe im Team besser organisiert und Probleme sowie personelle Engpässe frühzeitig erkannt und beseitigt werden.

Wichtige Vertreter: Taiichi Ohno (Toyota Motor Corporation)

 

Rapid Prototyping

Aufgabe: Schnelle Entwicklung von Mustern, Durchführung von Experimenten

Kurzbeschreibung: Rapid Prototyping ist ein Verfahren zur schnellen Umsetzung von Modellen und Prototypen. Im Lean Startup-Prozess werden Modelle eingesetzt, um frühzeitig Kundenfeedback einzuholen oder Umsetzungsfehler zu vermeiden, die durch Prototypen sichtbar werden, wodurch enorme Kosten eingespart werden können. Heute werden zunehmend 3D-Drucker eingesetzt, um physische Produkte nachzuempfinden.

Wichtige Vertreter: Andreas Gebhardt, Petra Fastermann, u.a.

 

Minimum Viable Product (MVP)

Aufgabe: Produkteinführung

Kurzbeschreibung: Das Minimum Viable Product beschreibt eine Produktversion mit einem minimalen Funktionsumfang, das gerade nur den zentralen Kundennutzen bedient. Das MVP erlaubt es, mit minimalem Mitteleinsatz ein maximales Kundenfeedback unter realen Marktbedingungen zu erhalten, um daraufhin mit weiteren Mitteln ein noch besseres Produkt zu entwickeln und entsprechend der Kundenbedürfnisse den Markt zu erschließen.

Wichtige Vertreter: Eric Ries

 

Customer Funnel AARRR / Startup Metrics

Aufgabe: Analyse und Überwachung der Markterschließung

Kurzbeschreibung: Der Customer Funnel nach Dave McClure umfasst fünf Stufen des Kundenverhaltens bei der Markterschließung eines
Lean Startups: Acquisition, Activation, Retention, Revenue, Referral. AARRR beinhaltetfünf zentrale Startup Metriken, die von erfolgreichen
Startups kontinuierlich analysiert und optimiert werden.

Wichtige Vertreter: Dave McClure

 

Es ist davon auszugehen, dass sich die Menge und Qualität von Methoden und Instrumenten agiler Innovationsprozesse stetig weiterentwickelt.

Im Übrigen sprechen Ries, Osterwalder & Co. auch die Visionäre in etablierten Unternehmen an, deren Spiel nämlich von den Herausforderern aus der Garage verändert wird. Lean Startups können laut o.g. Definition auch Organisationen innerhalb größerer Unternehmensstrukturen sein.

Während Gründer die agilen Innovationsmethoden zunehmend wie selbstverständlich benutzen, befinden sie sich jedoch für viele Unternehmensvertreter noch im „Nextland“. Es bleibt also spannend.

Über den Autor: Willms Buhse

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Dr. Willms Buhse, CEO und Gründer von doubleYUU, bringt mit Digital Leadership die Innovationen des Silicon Valley in die Büros der deutschen Führungsetagen. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel und viele Top-Manager zählen zu seinen Kunden. Er hält Vorträge in Harvard, am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und an deutschen Elite-Universitäten in Berlin, München oder Hamburg. Dr. Willms Buhse gilt über deutsche Grenzen hinaus als Vordenker der digitalen Elite. Wie kein Zweiter versteht er es, Ideen und Impulse aus der digitalen Welt auf die Realität deutscher Unternehmen zu übertragen.